Wir müssen den Mut haben, das irakische Volk
in seinem Widerstand zu unterstützen

Rede von Dahlia Wasfi, USA
Irak-Konferenz 5. – 8. März 2008 Humboldt-Universität zu Berlin

Ich spreche heute zu Ihnen im Namen meiner Verwandten mütterlicherseits, aschkenasische Juden, die durch Hitlers Anschluss aus ihrer Heimat Österreich fliehen mussten. Für sie erklären wir: „Nie wieder“. Ich spreche heute zu Ihnen im Namen meiner Verwandten väterlicherseits, die unter der Besatzung und dem Raubzug der US-Regierung nicht leben sondern sterben. Denn es mangelt ihnen an allem, an Sicherheit, Grundversorgung, Elektrizität, Trinkwasser, Arbeitsplätzen. Der Wiederaufbau wird ihnen verwehrt, wie das Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück. Es geht ihnen heute schlechter als vor der US-Invasion. Das „Nie wieder“ muss auch für sie gelten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg blickte die Welt auf die Deutschen und fragte: „Wie konntet Ihr dies geschehen lassen?“ Heute blickt die Welt auf US-Amerikaner und Israelis und fragt sie dasselbe. Die meisten von uns wählen die Bequemlichkeit, aus nur einem Grund: weil wir es uns anscheinend leisten können. Wir stecken unsere Köpfe in den Sand, weil mit dem Kennen der Wahrheit die Verantwortung verbunden ist aktiv zu werden. Das Kennen der Wahrheit gebietet, dass wir mit der schweigenden Mehrheit brechen und das Risiko auf uns nehmen, für jene zu sprechen, die keine Stimme haben.

Für Iraker gibt es keine Erholungspause von den Leiden, die ihnen amerikanische Waffen und amerikanischer Rassismus zufügen. Mit der Zerstörung des irakischen Stromnetzes während des ersten Golfkrieges brach das Gesundheitssystem zusammen, ein Gesundheitssystem, das aus erstklassigen Einrichtungen bestand, bekannt als das „Juwel der arabischen Welt“. Nach dem Januar 1991 endeten gesundheitliche Betreuung und Vorsorgedienste, und die Wirtschaftssanktionen führten zu einem bedrohlichen Mangel an Nahrungsmitteln und lebenserhaltenden Medikamenten und Geräten. Die Cholera wurde zur endemischen Krankheit. Leicht behandelbare Krankheiten wie Entzündungen der Atemwege und Diarrhö bewirkten 70 Prozent der Todesfälle von Kindern unter 5 Jahren. In diesem tragischen Zustand befand sich die irakische Gesellschaft als der rechtswidrige "Shock and Awe" Einmarsch erfolgte und die Zahl der Patienten dramatisch ansteigen ließ.

Mit der Auflösung von Recht und Ordnung kam es zu Plünderungen der irakischen Krankenhäuser. Heute verzögert der Mangel an Sicherheit die notwendigen Lieferungen und vom Gesundheitsministerium, das unter Aufsicht der USA steht, kommen keine Gelder. Ein Arzt meinte dazu: „Vor dem Einmarsch hatten wir eine viel bessere Versorgungslage, 80 Prozent besser als heute.“ Das heißt: Unter einem brutalen Regime und drakonischen Wirtschaftssanktionen gab es 80 Prozent mehr Versorgung als heute im „befreiten“ Irak.

Medikamente für Epidural-Anästhesie bei Wehen oder degenerativer Disc-Krankheit fehlen völlig. Eines der Hauptkrankenhäuser in Basra konnte eine Woche lang keine Operationen durchführen, weil es keine Gaze gab. Doch immerhin stand das Krankenhaus noch, anders als in Falludja, wo durch die amerikanischen Angriffe 70 Prozent der Gebäude dem Erdboden gleich gemacht, und die übrigen 30 Prozent schwer beschädigt worden sind.

Im April 2004 sperrten die US-Marines die Brücke zur Stadt und die Straße zum Krankenhaus. Das ist ein Kriegsverbrechen. Das US-Militär blockierte mit seinen Fahrzeugen den Eingang des Krankenhauses. Das ist ein Kriegsverbrechen. Und Heckenschützen waren auf den Dächern in Stellung gegangen und zielten auf Krankenwagen und auf die Türen der Klinik. Zwischen 600 und 800 Zivilisten wurden bei dieser Belagerung getötet. Doch damit hatten sie sich noch nicht zufrieden gegeben.

Im November 2004 begann die zweite große Belagerung von Falludja. Am 6. November wurde das Nazzal Notfall-Krankenhaus dem Erdboden gleich gemacht. Am 8. November wurde das Hauptkrankenhaus vom US-Militär besetzt. Ärzte berichteten: „Wir wurden gefesselt und geschlagen, obgleich wir unbewaffnet waren und nur unsere medizinischen Instrumente bei uns hatten.“ Burah Fasa’a, ein Kameramann des Libanesischen Fernsehens berichtete: „Da gab es amerikanischen Heckenschützen auf dem Dach des Krankenhauses, die auf jeden in Sichtweite schossen.“ Gleichzeitig verwehrte das US-Militär dem Irakischen Roten Halbmond sieben Tage lang den Zugang zu Falludjah. Danach wurden viele Flüchtlinge, die heimkehren wollten, von den Besatzungstruppen gezwungen, ihre Fingerabdrücke zu geben und sich einem Retina-Scan zu unterziehen. Insgesamt belief sich die Zahl der Getöteten auf 6000 bis 8000 Zivilisten. Das bedeutet, dass die Zahl der getöteten Iraker allein im November 2004 und allein in Falludjah die Zahl der Todesopfer übertraf, welche die Invasoren bis dahin während der ganzen Operation Enduring Freedom erlitten hatten.

Aufgrund der hoffnungslosen Lage im Irak – fehlende Sicherheit, hohe Kriminalität und gezielte Tötungen – waren, Schätzungen zufolge, bis Oktober 2006 18.000 der insgesamt 34.000 irakischen Ärzte aus dem Land geflohen, 2000 Ärzte und 164 Krankenschwestern ermordet, und weitere 250 für hohe Lösegeldzahlungen entführt worden. Es wird geschätzt, dass 68 Prozent der Iraker keinen direkten Zugang zu sicherem Trinkwasser haben und 81 Prozent ohne ordentliche Abwasserentsorgung sind.

Die Bevölkerungsgruppen, die am meisten unter dem Mangel an Recht und Ordnung leiden, sind Frauen und Kinder. Es wird geschätzt, dass von 2003 bis 2006 270.000 Neugeborene keine Impfungen erhielten. 800.000 irakische Kinder gehen aufgrund des Chaos, des Mangels an Sicherheit und der erdrückenden Armut nicht zur Schule. 500.000 Waisen leben auf den Straßen des Irak. Wie aus dem im Mai 2007 veröffentlichten World’s Mother Report der Organisation Save the Children hervorgeht, sind die Chancen, dass ein Kind im Irak die ersten fünf Jahre überlebt, seit 1990 schneller als in irgend einem anderen Land der Welt gesunken. Im Jahre 2005 starb eins von acht irakischen Kindern während der ersten fünf Lebensjahre durch Krankheit oder Gewalt.

Frauen mussten ihre Rolle im Arbeitsleben fast gänzlich aufgeben. Vor der Invasion leisteten Frauen ihren Beitrag zur irakischen Gesellschaft u.a. als Lehrerinnen, Richterinnen, Juristinnen, Ärztinnen, Ingenieurinnen, Verkehrspolizistinnen. Heute dagegen verbannt die Gefahr, einer Gewalttat oder Entführung zum Opfer zu fallen, die Frauen in ihre Häuser. Aber selbst dort finden sie keine Schutz vor dem Terrorismus der täglichen Haus-Razzien durch US-amerikanische Soldaten und irakischer Polizei.

Es spielt keine Rolle, ob man das Leid von Millionen von Irakern und den Tod von Hunderten täglich als „Bürgerkrieg“, „ethnischen Konflikt“ oder „Demokratie“ bezeichnet. Es ist ein vorsätzliches "Killing Field" der USA um den Raub des Erdöls zu verbergen.

Immer mehr US-Amerikaner fordern dazu auf, die Kriegsverbrecher ihres Amtes zu entheben und anzuklagen. Immer mehr US-Soldaten finden den Mut zum Widerstand, riskieren ihre Freiheit und werden zu Gewissensgefangenen – unter ihnen Andrew Hegerty und Jeffrey Gauntt. Beide sitzen in Mannheim in Haft weil sie den Einsatz in Afghanistan verweigerten.

Die Menschen in den USA müssen die Soldaten unterstützen, die Widerstand leisten. Und wir brauchen Eure Hilfe.

Die Kinder des Irak haben keine Wahl angesichts des hilflosen Elends, das die westlichen Imperialisten ihnen auferlegt haben. Auch die Kinder Afghanistans haben keine Wahl. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind 90 Prozent der Kriegsopfer unbewaffnete Zivilisten, ein Drittel davon Kinder. Dies ist kein Kollateralschaden, dies liegt in der Natur der modernen Kriegsführung. Unsere Opfer haben uns nichts getan.

Jeden Tag begehen die Vereinigten Staaten und Israel Kriegsverbrechen und verstoßen gegen die Genfer Konventionen und die UNO-Karta. Die Besatzung des Irak folgt dem Modell der Besatzung Palästinas, wobei die Westmächte das Ziel verfolgen, militärische Stützpunkte einzurichten, um die reichen Erdölvorkommen der Region zu kontrollieren.

US-Amerikaner bombardieren Krankenwagen. Wir bombardieren Brücken. Wir töten Kinder. Wir setzen chemische und biologische Waffen ein. Wir setzen abgereichertes Uran ein, eine Waffe, die Radioaktivität freisetzt und zu Krebs führt – bei Zivilisten und bei unseren Soldaten. Die Folgen dieser Massenvernichtungswaffe werden auch auf die Kinder übertragen.

Von Palästina bis Afghanistan, Irak und Somalia, welches Land auch immer als nächstes im Visier der USA sein wird, dies ist kein „Krieg gegen Terror“, dies ist ein „Krieg des Terrors“. Arme aus westlichen Ländern werden losgeschickt Arme in muslimischen Ländern zu töten. Es ist ein Handel von Blut gegen Öl. Es ist Völkermord. Für die meisten Menschen der Welt sind die US-Amerikaner die Terroristen.

Die Zivilisten vor dem Lauf unserer Waffen haben keine Wahl. Aber US-Soldaten haben die Wahl. Und wir kennen die Wahrheit. Die gegenwärtige irakische Gesellschaft ist - dank US-amerikanischer „Hilfe“ - gekennzeichnet durch Chaos, Häuserrazzien, Todesschwadronen, Kontrollpunkte, Inhaftierungen, Ausgangssperren und anhaltende Gewalt.

Wir müssen den Mut haben, unsere Stimme zu erheben und das irakische Volk in seinem Widerstand zu unterstützen, das irakische Volk, das unter den schrecklichen Bedingungen leidet, die unser blutrünstiger imperialer Kreuzzug verursacht hat. Wir müssen den Mut haben, unsere Stimme zu erheben um jene wirklich heldenhaften US-Soldaten zu unterstützen, die im Sinne ihres Eides handeln „die Verfassung der Vereinigten Staaten gegen alle ausländischen und inländischen Feinde zu verteidigen“. Abgesehen von Condoleezza Rice, die ja gerade Kriegsverbrecher in Tel Aviv besucht, befinden sich unsere Feinde in Washington.

Es ist unsere Pflicht, den unverzüglichen, bedingungslosen Rückzug der ausländischen Militärkräfte aus dem Irak zu erreichen. Punkt. Welche Mittel und Wege wir dabei auch wählen, wir müssen unseren Herzen folgen und unsere Stimme erheben, denn: wenn nicht wir, wer sonst? Und wenn nicht jetzt, wann denn?

Ich danke Euch